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Interviews

2015

Thomas Metzinger

Einfachheit an sich

Eleganz ist mehr als eine ästhetische Qualität oder ein ephemerer Ausdruck von Erbauung, ein Gefühl, das wir in tieferen Formen des intuitiven Verstehens erleben. Eleganz ist formale Schönheit - und formale Schönheit als philosophisches Prinzip ist eine der gefährlichsten, subversivsten Ideen, die die Menschheit entdeckt hat: die Tugend der theoretischen Einfachheit. Ihre destruktive Kraft ist stärker als Darwins Algorithmus oder der jeder anderen wissenschaftlichen Erklärung, weil sie uns zeigt, was die Tiefe einer Erklärung ist.

Eleganz als theoretische Einfachheit tritt in verschiedenen Formen in Erscheinung. Jeder kennt Ockhams Rasiermesser, das ontologische Prinzip der Sparsamkeit: Entitäten dürfen nicht über das Notwendige hinaus vermehrt werden. Wilhelm von Ockham gab uns ein metaphysisches Prinzip, um zwischen konkurrierenden Theorien auszuwählen: Wenn alle anderen Dinge gleich sind, ist es sinnvoll, immer die Theorie vorzuziehen, die weniger ontologische Annahmen über die Arten von Entitäten enthält, die wirklich existieren (Seelen, Lebenskräfte, abstrakte Objekte oder ein absoluter Bezugsrahmen wie elektromagnetischer Äther). Wir dürfen nicht mehr Ursachen natürlicher Vorgänge zulassen als solche, die sowohl wahr als auch zur Erklärung der Erscheinung ausreichend sind – so formulierte Isaac Newton die erste Regel des philosophischen Denkens in seinen Principia Mathematica. Man lehnt alles ab, was zur Erklärung nutzlos ist, und verschiebt dann die Last des Beweises zu dem Proponenten einer weniger einfachen Theorie. In Albert Einsteins Worten: "Das große Ziel aller Naturwissenschaft … besteht darin, die größtmögliche Anzahl empirischer Fakten durch die logische Ableitung aus der kleinstmöglichen Anzahl von Hypothesen oder Axiomen abzudecken."

Natürlich kamen in aktuellen technischen Debatten neue Fragen auf: Warum sich überhaupt mit Metaphysik beschäftigen? Sollten wir nicht einfach die Anzahl freier, variabler Parameter in konkurrierenden Hypothesen erfassen? Ist es nicht die syntaktische Einfachheit, die Eleganz am besten einfängt, das heißt die Anzahl grundlegender Abstraktionen und Leitprinzipien, die sich eine Theorie zunutze macht? Oder findet sich das eigentliche Kriterium für Eleganz in Statistiken, in der Auswahl des besten Modells für eine Reihe von Datenpunkten, während Sparsamkeit bestmöglich mit der Anpassungsgüte einer passenden Kurve ausgeglichen wird? Und natürlich bleibt für ontologische Einfachheit im Stile Ockhams die GROSSE Frage weiter bestehen: Warum sollte eine sparsame Theorie wahrscheinlicher wahr sein? Und letztendlich, hat dies nicht alles seine Wurzeln in einem tief verborgenen Glauben, dass Gott ein schönes Universum geschaffen haben muss?

Ich finde es faszinierend zu beobachten, wie die ursprüngliche Erkenntnis ihre Kraft über die Jahrhunderte bewahrt hat. Die Idee der Einfachheit selbst, angewandt als metatheoretisches Prinzip, hat große Kraft entfaltet – die subversive Kraft der Vernunft und der reduktiven Erklärung. Die formale Schönheit theoretischer Einfachheit ist tödlich und kreativ zugleich. Sie zerstört überflüssige Annahmen, an deren Falschheit wir selbst kaum glauben wollen, während wirklich elegante Erklärungen eine vollkommen neue Sicht auf die Welt hervorbringen. Was ich wirklich gerne wissen möchte, ist Folgendes: Kann die fundamentale Erkenntnis – die destruktive, kreative Tugend der Einfachheit – vom Bereich der wissenschaftlichen Erklärung auf die Kultur oder auf die Ebene der bewussten Erfahrung übertragen werden? Wie müsste die formale Einfachheit beschaffen sein, die unsere Kultur tiefsinniger und schöner machen würde? Und was ist ein eleganter Geist?


Thomas Metzinger ist ein deutscher Philosoph und Professor für theoretische Philosophie an der Johannes Gutenberg University in Mainz. Autor: Der Ego Tunnel, 2010.

Englische Version, zuerst veröffentlicht auf der Edge Webseite als Antwort auf die Edge Annual Question 2012: WHAT IS YOUR FAVORITE DEEP, ELEGANT, OR BEAUTIFUL EXPLANATION?

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