Mittelmeer-Dialoge
2017
Bassel Al Saadi
Die Dialektik von Kunst und Politik
im Werk von Youssef Abdelke
Bassel Al Saadi lebte und arbeitete im Juli und August 2017 als internationaler Gastkünstler in der Villa Romana. Den folgenden Text trug er während seiner Lecture am 27.07.2017 in der Villa Romana vor.
Dieser Text wurde 2009 während des großen politischen und sozialen Stillstands geschrieben.
In Gedenken an Omar Aziz, der in den Gefängnissen von Bashar Assad unter Folter starb.
Einer der verwirrendsten Aspekte beim Schreiben über den syrischen Künstler Youssef Abdelke ist die Frage, ob er ein politischer Künstler ist. Ist er ein Künstler ohne Grenzen? Malte er Bilder oder übertrug er soziale und politische Botschaften mittels seiner beeindruckenden künstlerischen Fertigkeiten? Nutzte er sein Talent nur für politische Ziele und würde es erst später zum Werkzeug, um Dinge auszudrücken, die größer sind als er selbst, existentielle Dinge?
Wie entscheidet er über seine künstlerischen Möglichkeiten? Und wie beantwortet er solch komplizierte Fragen wie: Kommt die Kunst zuerst oder die Politik? Und wenn politische Arbeit nicht existiert, kann man dann noch politische Kunst machen? Was möchte Youssef Abdelke uns anbieten? Ich stelle diese Fragen, weil ich glaube, dass er ein Künstler ist, der seine Entscheidungen mit extremer Aufmerksamkeit trifft und wir entsprechend seine Arbeit auf verschiedenen Ebenen lesen müssen.
Ich begegnete seinen Arbeiten Ende der 1980er Jahre auf den Buchtiteln syrischer Dichter und Schriftsteller. Während dieser Zeit fanden wir noch unseren Weg durch die Begegnung mit Kunst und fragten uns: Was ist Kunst? Warum malen Künstler oder machen sie Skulpturen? Wir sortierten unser Alphabet, um die Geheimnisse der Arbeiten, die wir sahen, zu lüften. Wir waren erschöpft von unseren Interpretationen und durcheinander von den Kriterien, die wir benutzten.
Kunst erschien, neben anderen kreativen Feldern, übernatürlich. Aber wenn wir eine Malerei oder ein Buchcover von Youssef Abdelke sahen, dann hielten wir an vor zwei Dingen: der Klarheit und Aufrichtigkeit des Gedankens und der sublimen Technik seines Werks. Hier fanden wir all das, was uns in den Arbeiten anderer Künstler als hochmütig und rätselhaft erschien, bescheiden vor dem Betrachter ausgebreitet. Er war ein Wegbereiter auf extrem hohem Niveau. Damals glaubten wir noch an den linken Traum und fragten uns, was politische Kunst sei und ob Kunst politisch sein müsse, um den Menschen zu dienen oder ob es ausreiche, Kunst zu machen, am Ende sei doch alles politisch.
Die Zeit vergeht mit großen Veränderungen, lokal und global, gut etablierte Konzepte fangen an zu wackeln, andere bleiben und werden klarer.
Ich glaube, dass die bildende Kunst in Syrien seit ihren Anfängen auf literarische und nationale Themen vertraute. Das war die einzige Option für Künstler, sich diesem neuen Medium anzunähern. Wenn wir jedoch anfangen, die Karriere von Youssef Abdelke zu interpretieren, bringt uns diese Frage durcheinander: Hat die politische Botschaft oder die ästhetische seine Priorität?
Ich glaube, diese Frage begleitete Abdelkes Karriere von Anfang an, derart dass die Dringlichkeit der politischen Arbeit die Antworten am Anfang bestimmte, zumindest im Hinblick auf seinen Wunsch, eine politische Wirkung zu haben. Das erscheint zulässig und weckt noch keine Zweifel. Aber in welche Richtung kann sich eine künstlerische Arbeit entwickeln, wenn die Wege für politische Arbeit abgeschnitten sind? Das widerfuhr Abdelke, als er Anfang der 80er Jahre aus dem Gefängnis entlassen wurde und nach Frankreich reiste, um seine Studien fortzusetzen.
Abdelke beschäftigte sich weiterhin damit, Kunst und Politik zusammen zu führen. Während der 1980er und frühen 1990er Jahre erschienen Dutzende syrische Romane und Gedichtbände mit seinen Zeichnungen auf dem Cover. Wir können diese Phase als eine der symbolischen Politik beschreiben und erkennen, dass diese Zeichnungen voll sind von isolierten Personen, die seltsamen Monstern gegenüber stehen. Wenn wir die Veröffentlichungsdaten der Bücher betrachten, können wir ganz klar den technischen und künstlerischen Fortschritt des Künstlers in dieser Periode beobachten. Abdelke malte in dieser Zeit auch eine Trilogie mit arroganten, verzerrten Figuren, die materiell und spirituell korrupt sind. Der Fortschritt in seiner Arbeit liegt genau in der präzisen Balance zwischen Malerei und Karikatur, so wie er auch verfeinerte Techniken aus der Grafik auslieh.
Abdelke sagt selbst über diese Zeit: "In den meisten Serien tauchten direkte politische Aspekte auf, es war ein Weg, mich von all dem, was sich während meiner Zeit im Gefängnis in mir angesammelt hatte, wieder zu entledigen. Es verband mich mit meinen ganz frühen Arbeiten, in denen es diese Menschen gibt, die ihre Kraft – auf der Bedeutungsebene – untersuchen. Aber auf künstlerischer Ebene gab es in dieser Serie eine Menge Wut und Stolz, Arroganz und Ironie, ein Spiel über all das in einer möglichst rachsüchtigen Weise. Am Ende dieser Serie hatte ich den Eindruck, dass ich – wenn diese Redensart etwas gilt – die Rechnung mit meiner Gefängniszeit abgeschlossen hatte."
Über diese Periode gibt es nicht viel mehr zu sagen, abgesehen von der Tatsache, dass es für Abdelke eine Zwischenphase war, in der seine konzeptuelle Reife noch nicht abgeschlossen war, wenn es um Fragen ging wie die nach dem Unterschied zwischen einem Gemälde und einem politischen Plakat – eine alte Frage, die vielleicht mit Picassos Guernica aufkam. Die Antwort ist einfach die, dass die Zeit alles bestimmt. Politische Plakate beziehen sich auf tägliche, vorübergehende Ereignisse, während der künstlerische Wert der Malerei jede Epoche überschreitet. Mitte der 1990er Jahre setzte eine Phase großer Entwicklungen ein, die viele Künstler dazu zwangen, Ideen, an die sie lange geglaubt hatten, neu zu überdenken.
Es ist schwierig, Abdelkes intellektuellen und psychologischen Fortschritt in dieser Zeit zu bewerten, ich werde seine künstlerische Entwicklung beschreiben. Es gab einen Übergang von alltäglichen politischen Angelegenheiten zu historisch-politischen Sorgen: er beantwortete die Frage nach der Wirksamkeit von Kunst, indem er in die Tiefen der künstlerischen Verfassung hineinging: dass nämlich wahre Wirksamkeit keine sofortige Reaktion suche; sie überschneide sich vielmehr mit künstlerischer und visueller Wirksamkeit. Und das ist, meines Erachtens, das, was Abdelkes Öffentlichkeit verbreiterte.
In dieser Phase, die 1995 begann und noch nicht abgeschlossen ist, malte Abdelke Dinge, die er im Hinblick auf einen extremen Realismus auswählte, es waren gebrauchte Schuhe, getrocknete Pflanzen, Fischköpfe, Tierschädel, Glas. Obgleich Abdelke diese Gegenstände mit extremem Realismus malte, ist der Raum, in die er sie stellte, abwesend, mysteriös, uneindeutig. Wenn man genau hinsieht, ist es ein non-space (Nicht-Raum). Und das bringt uns zurück zur Abwesenheit von Raum in der syrischen Malerei, jenem Raum, den wir als den des Mutterleibs bezeichnen können, als den Raum des Begehrens, in dem wir nicht leben, aber in den wir uns zurückziehen können, weit entfernt von den Schrecken des Lebens. In den Malereien von Abdelke ist das aber ganz anders. Der Raum als der des Mutterleibs ist voll von schockierenden Realitäten, voller Tod, und deshalb auch von vergangener Zeit. Und das ist das Paradox: Der Raum erzählt uns von der Nicht-Existenz von Zeit, und die Dinge, die ihn ausfüllen, schockieren uns mit ihrer sensitiven Präsenz.
Ich will einige Annäherungen vorschlagen, um das besser zu verstehen. Ich gebe zwei Beispiele, die vielleicht unstimmig erscheinen, die aber derselben Methode dienen, um Realität aus künstlerischer Perspektive zu präsentieren. Das erste ist der sozialistische Realismus, der in den ex-kommunistischen Ländern weit verbreitet war. Das zweite ist die Bildlichkeit der Fernsehwerbung. Beide präsentieren Raum als einen, der erscheinen wird, wenn der Traum erfüllt ist, der Traum einer Revolution, die auf eine utopische Zeit und einen utopischen Raum hinführt. Ein Himmel, der zwangsläufig zur Realität wird, wenn wir nicht gierig sind und ihn jetzt einfordern. Es ist ein Gelöbnis für zukünftige Generationen. Deshalb leiden wir jetzt.
Der Traum des Konsums verkauft uns eine Glückseligkeit, der wir mit dem Produkt begegnen werden, das genau zu diesem Zweck verkauft wird. Er benutzt Zukunft auf zweierlei Weise: als Droge, die den anhaltenden Willen der Menschen durch ihre Hoffnungen ausbeutet, und auch durch die Hoffnung auf Verbesserung ihres Lebens, kollektiv (sozialistischer Realismus) oder individuell (Werbung). Man findet nur sehr selten Künstler, die mit einem solch subjektiven Raum arbeiten. Einer der wenigen, der dieses Terrain mutig beschritten hat, ist vielleicht der englische Künstler Lucian Freud, wenn er nackte Menschen ohne Beschönigung malte und mit großer Sensitivität. Er malte sie in ihren eigenen äschernen Räumen, ihre Gesichtszüge verweisen auf nichts. Sie sind ohne jede Hoffnung, kein Ausdruck erscheint auf ihren Gesichtern, die Zeit selbst ist da (genau in dieser Sekunde). Wir sehen das ganz klar, weil es unsere Augen genau dahin führt, wovor wir fliehen…. dem Blick auf die Realität. In diesen Gemälden befreien sich die Menschen von Hoffnung, oder sie befreien sich zumindest davon, ihre Einbildung zu füttern, um den Moment zu ergreifen, so ernst er auch sein mag.
Zurück zu Abdelke sehen wir, dass er schockierende Dinge wie Schuhe, Schädel, trockene Blumen zeigt, die uns von einer realen Zeit erzählen, die ihnen widerfuhr. Er zeigt sie als Ikonen, getrennt von ihrem Raum, und erhebt sie in einen sakralen Status. Von einem anderen Standpunkt aus können wir sagen, dass er Raum absichtlich ausschließt, also auch Zeit ausschließt und nur das anbietet, was dann noch existiert (alte Schuhe, Schädel…). Auf diese Weise kann Abdelkes Kunst nicht gänzlich politisch sein. Politische Arbeit bemüht sich, mit der Gegenwart und Zukunft sichere Geschäfte zu machen, und sie kehrt zur Vergangenheit eigentlich nur zurück, um sie für ihre Zwecke in Gegenwart und Zukunft zu nutzen.
Im Vergleich mit Lucian Freuds künstlerischen Konzepten können wir sagen, dass Youssef Abdelke uns Dinge zeigt, die uns schockieren und durcheinanderbringen. Lucian Freuds Werke sind härter, indem sie uns erzählen: das ist die Wirklichkeit, das ist Alltag, und Leben ist nichts als das… wir beseelen so unsere Monotonie hinter Mauern, Hoffnung erscheint als langweiliger Scherz, während Abdelkes Schädel, Schuhe und Fischköpfe von der Rache an der Hoffnung erzählen, die ihn vielleicht für einen Tag verführen wollte, von der sozialen Utopie, die ihn niederschlug und seine Rückkehr an den Ort sühnt, den er fliehen wollte, ein isolierter, persönlicher Raum ohne politische Wirksamkeit. Hier wird Kunst wieder zur Offenbarung und ihre sozial-prophetische Pflicht zieht sich zurück. Ich denke, dass Abdelkes künstlerische Entscheidungen während der letzten 15 Jahre seine Kunst in all dem stärkten, was ihr zu Beginn seiner Karriere noch fehlte: der Konfrontation mit der eigenen Existenz. Ist das nicht der Fatalismus für jeden Künstler?
Ich beende diesen Text mit einer Ergänzung, die aus verschiedenen Gründen notwendig ist:
1) Große Veränderungen fanden statt, die das Leben der Syrer radikal verändern würden: die syrische Revolution.
2) Youssef Abdelke ist einer der sehr wenigen syrischen Künstler, die bis heute in Damaskus geblieben sind. Er hat die enormen Veränderungen gesehen, die in der syrischen Gesellschaft passierten, sowohl als Künstler wie als politische Person (Verhaftungen, Massaker, Massenvertreibungen ...).
Die syrische Revolution begann am 15.11.2011, mehr als 40 Jahre nach der Machtübernahme durch die Assad Familie. Es passierte in Form mehrerer friedlicher Demonstrationen, denen das Regime mit brutaler militärischer Gewalt begegnete. Eine politische Lösung ist nicht in Sicht.
Während dieser Periode tauchten viele syrische politische Werke auf zur Unterstützung der Revolution, es gab eine kurze Periode großer kollektiver psychologischer Freiheit …
Aber Tag um Tag – mit dem Fehlen jeder Hoffnung für eine politische Lösung – begannen Intellektuelle und Künstler, Syrien zu verlassen aufgrund täglicher Einschüchterungen (Morde, Verhaftungen, Massaker, Fassbomben).
Eine sehr kleine Anzahl von Dissidenten blieb in Damaskus ... Die Frage, mit der wir konfrontiert waren, war: was können wir als Künstler in einer Stadt machen, die vom Regime besetzt ist, in Abwesenheit einer großen Menge an Menschen und Meinungsfreiheit und Einkommensmöglichkeiten …
Ich besuchte Youssef Abdelkes Studio regelmäßig und beobachtete weiter, wie er künstlerisch auf den Verlust des politischen Kompasses antworten würde, nachdem die Islamisten die Kontrolle über die revolutionären Gruppen übernommen hatten (mit Assads Unterstützung).
Assad spielte mit der Zeit, braute eine unklare Situation zusammen, die es ihm erlaubte, sich aus dem Patt und aus der Verantwortung für die Massaker und Fassbomben zu ziehen, die aus Flugzeugen auf Wohngebiete abgeworfen wurden. Es gelang ihm, die Revolution in einen regionalen und internationalen Konflikt zu verwandeln und in einen Bürgerkrieg …
Youssef war nicht so optimistisch, seine Malerei mit Bildern der revolutionären Märtyrer zu füllen oder Assad lächerlich zu machen. Tag um Tag kehrte Youssef zu seinen alten Themen zurück (tote Spatzen, tote Fische, verwelkte Blumen…). Es war sein Stil des existentiellen Protests, der das Universum nach der Absurdität des Todes befragte. Aber dieses mal tat er das in einer Kriegssituation, die mit der Revolution verwickelt war, mit dem Bürgerkrieg, mit mindestens 500.000 Märtyrern und elf Millionen Flüchtlingen.
Ich hätte sicherlich gerne sehen wollen, was aus Abdelkes Werk geworden wäre angesichts einer Entscheidung für wirkliche politische Arbeit – wenn die Revolution einen friedlichen Übergang aus der Herrschaft Assads geschafft hätte…
Aber mit dem Auftauchen von Isis und einer Welt, die Assads Massaker als reiner Zuschauer anschaut, ging die Situation weit über das hinaus, was jede gesunde Person sich jemals hätte vorstellen können … Und in Damaskus begannen wir uns, Tag um Tag über die letzten sechs Jahre, isoliert zu fühlen von allen anderen syrischen Städten, abgetrennt von einer syrischen Kultur, die nun über die Welt verstreut war …
Am 17. Januar 2017 eröffnete Youssef Abdelkes erste Ausstellung nach der Revolution in Damaskus. Die meisten der ausgestellten Malereien wäre Gemälde von nackten Mädchen. Die Ausstellung erzeugte einen starken Widerhall aus zwei Gründen: weil sie in einem Damaskus stattfand, das vom Regime besetzt war, und weil sie keinerlei revolutionäre Themen zeigte. Im Gegenteil, zum ersten Mal hatte Youessef Abdelke Nackte gemalt.
Viele beschuldigten ihn, die Revolution zu leugnen und den Schmerz der Syrer zu missachten, und dass er mit der Tatsache, in Damaskus auszustellen die Macht Assads anerkannte … Sie hatten vergessen, dass Künstler ein persönliches Bedürfnis zum Ausdruck haben und dass das Motiv des Todes nicht unbedingt ein politisches ist … Sie wollten, dass Youssef Abdelke Kunst macht, die die Tragödie Syriens zum Ausdruck bringt.
Das Ende der Revolution und persönliche Trauer:
Abdelke antwortete natürlich … Er sagte, dass wir angefangen hatten, nach Fragmenten des Lebens in Damaskus zu suchen und dass die Menschen in Damaskus die Ausstellung gefeiert hätten aufgrund der seltenen kulturellen Aktivitäten. Und dass die, die die Ausstellung angegriffen hätten, außerhalb Syriens lebten und nicht die drastische psychologische Situation in Damaskus erfahren. Und dass ein Angriff auf die Ausstellung noch kein Versuch zu einer künstlerischen Kritik an den Werken sei.
Während meiner Besuche in Youssefs Studio sah ich, dass er nicht aufgehört hatte, politische Themen zu malen mit großer Geduld … Die Geduld, die Youssef in diesen letzten sieben Jahren trainiert hat. Er sieht, wie seine Leute und sein Land vernichtet, seine liebsten Freunde umgebracht oder verhaftet werden, und er weiß, dass er selbst in jeder Sekunde vom Regime persönlich bedroht ist.
(übersetzt aus dem Englischen)